Bild links: Titelbild des schönsten YouTube-Videos Ave Maris Stella von Lyrical-Verse Ascent (siehe weiter unten)
Bild rechts: Photographie eines Gemäldes aus dem 19. Jahrhundert: "Maria Stern des Meeres" (Public Domain)
Lateinischer Text | Deutsche Übersetzung | Reimübertragung | |
1. |
Ave, maris stella, Dei mater alma atque semper virgo, felix caeli porta. |
Sei gegrüßt, des Meeres Stern, |
Ave, Stern der Meere, |
2. |
Sumens illud „Ave“ |
Annehmend jenes „Ave“ aus Gabriels Mund, verankere uns im Frieden, ändernd Evas Namen! |
Aus des Engels Munde |
3. |
Solve vincla reis, |
Löse die Fesseln den Schuldigen, |
Lös das Band der Sünden, |
4. |
Monstra te esse matrem, |
Zeige, dass du bist eine Mutter; es auf sich nahm, zu sein dein. |
Dich als Mutter zeige; |
5. |
Virgo singularis, |
Jungfrau einzigartige, |
Jungfrau, allzeit reine, |
6. |
Vitam praesta puram, |
Gewähre ein reines Leben, |
Woll' ein reines Leben, |
7. |
Sit laus Deo Patri, summo Christo decus, Spiritui Sancto honor, tribus unus. |
Es sei Lob Gott dem Vater, |
Lob sei Gott dem Vater, |
Amen. | Amen. | Amen. |
Gemäß Guido Maria Dreves & Clemens Blume ("Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung, eine Blütenlese aus den Analecta Hymnica mit literarhistorischen Erläuterungen", Leipzig, O. R. Reisland, 1909, Teil II, S. 238), der die Originaltexte, so sie denn ermittelbar sind, editiert, heißt es in Strophe 4, Vers 2 wohl um eines Reimes mit "matrem" willen: "sumat per te precem". Das Gebet ("prex") wird hier also im Singular verwendet; klassisch steht immer der Plural: "preces".
Das Gedicht besteht aus sieben Vierzeilern, wobei jede der vier Zeilen sechs Silben in drei akzentuierend trochäischen Versfüßen hat. Völlig unverständlich ist, wieso in Strophe 5, Vers 3, diese trochäische Metrik verletzt wird, denn "culpis" betont man auf der ersten Silbe. Mit einer simplen Umstellung, "culpis nos solutos", wäre der akzentuierenden Metrik bereits Genüge geleistet. Womöglich war die Urfassung auch so. Dass "spiritui" nach lateinischer Betonungs-Normierung den Ton auf der zweiten Silbe ("spi-rí-tu-i") hat, findet dagegen in der gesprochenen Praxis keine Beachtung. Spräche man, wie in klassischer Aussprache-Praxis sicherlich oft der Fall gewesen, das Schluss-"tui" einsilbig, dann würde bereits der Akzent auf die erste Silbe rutschen.
Das Ave maris stella ist in einer akzentuierenden trochäischen Metrik geschrieben. Ein Olivetaner aus Siena, Matthäus Ronto (†1443), hat es dennoch in eine quantitierende Metrik umgedichtet, und zwar in ein elegische Distichen bestehend aus Hexameter- gefolgt von Pentameter-Versen:
—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◠ (Hexameter: sechs Metren)
—◡◡ˌ—◡◡ˌ— ‖ —◡◡ˌ—◡◡ˌ◠ (Pentameter: zweimal zweeinhalb = fünf Metren)
Es folgt der Text aus den Analecta Hymnica XLVIII, 460, wie er im oben erwähnten Werk von Dreves & Blume: "Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung, . . .", 1909, inTeil I, S. 464, steht:
Matthäus Ronto († 1443) Translatio in metrum hymni |
Möglichst wortstellungserhaltende Übersetzung ins Deutsche |
Alma Dei genetrix et caeli ianua felix, fulgida stella maris, virgo perennis, ave! |
Erhabene Gottes-Gebärerin und Himmels-Türe uns labend, strahlender Stern des Meeres, Jungfrau immerwährende, ave! (sei gegrüßt)! |
Id Gabrielis Ave, quae fortis ab ore tulisti, nos miseros funda pacis in arce ratae. |
Es ist Gabriels Ave, was des Schicksals von seinem Mund hast fortgetragen; uns Elende festige in einer Burg gültigen Friedens! |
Quae celebranda parens mutasti nomen et Evae, tu mala nostra fuga, tu bona cuncta pete. |
Die du zu verherrlichende Mutter geändert hast den Namen auch Evas, du schlag in die Flucht unser Böses, du erbitte das gesamte Gute! |
Vincula solve reis et profer lumina caecis matris et insinua te retinere statum. |
Die Fesseln löse den Beklagten und trag voran die Lichter den Blinden, und lass tief in dich eingehen, dass du beibehältst einer Mutter Stellung. |
Te mediante preces pro nobis ipse capessat, qui vult esse tuus natus in orbe deus. |
Während du vermittelst, nehme er selbst sich der Gebete für uns an, welcher will sein der Deine, geboren auf dem Erdkreis als Gott. |
Virgo super cuntos homines et mitis et alta, fac humiles, castos, nos bene labe luens. |
O Jungfrau, mehr als alle Menschen milde und auch hochgestell, mach uns demütig, keusch, uns gut von unserer Schande reinwaschend. |
Da quoque purificae vitae munimina nobis ac iter impavidum cruraque tuta para, |
Gib uns auch des reinigenden Lebens Schutzmittel und zudem bereite uns eine beherzte Reise und sichere Beine. |
Ut genitum speculando tuum solemur in aevum grataque laetitiae dona lucremur ibi. |
damit wir im Ausschauen nach deinem Sohn uns trösten in Ewigkeit und holde Geschenke der Freude gewinnen dort. |
Laus benedicta deo patri natoque superno, spiritui sancto, sit tribus unus honor. |
Lob gut gezeigt Gott dem Vater, dem Sohn auch sich oben befindend; dem Heiligen Geist; es sei den Dreien die eine Ehre. |
Amen. | Amen. |
Dasselbe lateinische Gedicht nochmal, jetzt aber statt meiner wörtlichen Übersetzung eine metrische Übertragung, akzentuierende Hexameter und Pentameter durchgehend daktylisch:
Matthäus Ronto († 1443) Translatio in metrum hymni |
Martin Bachmaier 2021 Metrische Übertragung ins Deutsche |
Alma Dei genetrix et caeli ianua felix, fulgida stella maris, virgo perennis, ave! |
Hehre Gebärerin Gottes und himmlische Türe uns labend, strahlender Stern du des Meers, Jungfrau stets rein, sei gegrüßt! |
Id Gabrielis Ave, quae fortis ab ore tulisti, nos miseros funda pacis in arce ratae. |
Gabriels Ave es ist, dessen Schicksal vom Munde du fortträgst. Mache im Glauben uns fest! Frieden uns Elenden gib! |
Quae celebranda parens mutasti nomen et Evae, tu mala nostra fuga, tu bona cuncta pete. |
Lob dir, o Mutter, durch's Ave verdreht hast den Namen der Eva, Schlag unser Böses in Flucht! Alles, was gut ist, erbitt! |
Vincula solve reis et profer lumina caecis matris et insinua te retinere statum. |
Löse den Sündern die Fesseln, trag Lichter voran allen Blinden, Tief grab es ein in dein Herz, dass eine Mutter du bist! |
Te mediante preces pro nobis ipse capessat, qui vult esse tuus natus in orbe deus. |
Während du mittelst, ergreif die Gebete für uns doch er selber; der dir gehören will, Gott, den du auf Erden gebarst. |
Virgo super cuntos homines et mitis et alta, fac humiles, castos, nos bene labe luens. |
Jungfrau, die mehr du als alle Geschöpfe bist mild und erhaben, demütig mach uns und keusch, wasche uns rein von der Schuld! |
Da quoque purificae vitae munimina nobis ac iter impavidum cruraque tuta para, |
Gib uns auch Schutz, der die Reinheit des Lebens verwirklichen helfe! Mach, dass beherzt wir den Marsch gehen mit sicherem Schritt, |
Ut genitum speculando tuum solemur in aevum grataque laetitiae dona lucremur ibi. |
um, in der Ausschau nach Gott, deinem Sohne, getröstet auf ewig, holde Geschenke des Glücks dort zu erhalten als Lohn. |
Laus benedicta deo patri natoque superno, spiritui sancto, sit tribus unus honor. |
Gott sei lobpriesen, der Vater, der Sohn in dem Schreine und oben, so auch der Heilige Geist; diesen drei einzig der Ruhm. |
Amen. | Amen. |
Die Versform folgt nicht durchgehend der klassischen Silben-Messung. So ist etwa das Schluss-"o" von "virgo" und "speculando" kurz zu sprechen, eine Vokalkürzung, die bereits bei Venantius Fortunatus (6. Jahrhundert) belegt ist. Dass etwa Vergil bei "homo" ("Mensch") das Schluss-"o" kurz misst, entspricht dagegen klassischen Vokalkürzungsregeln; "homo" ist nämlich jambisch, was die Kürzung des Schluss-Vokals ermöglicht (wie etwa auch bei "tibi", "ibi", "ubi" usw.).
Das "ac" im drittletzten Verspaar sollte, da es vor einem Vokal steht, klassisch "atque" heißen, wobei dann das Schluss-"e" im Anfangs-"i" von "iter" aufgeht; nur dies garantiert die lange Silbe bei Pentameter-Beginn.
Dann folgt noch das Problem, dass man im späteren Latein offenbar geglaubt hat und möglicherweise immer noch glaubt, dass die Schlusssilbe eines Wortes, das mit einem kurzen Schlussvokal endet, auch kurz bleibt, sich also keinen Anfangs-Konsonanten eines nachfolgenden, mit vollweritgem Doppelkonsonanten beginnenden Wortes wie z. B. "stella" dazuschnappt. So mag man bei "fulgida stella" die Silbe "da" unbehelligt vom Anfangs-"s" in "stella" kurz lassen, stattdessen das "s" der langen Silbe, die eigentlich nur "tel" heißen sollte, vorausschieben und diese als "stel" noch länger machen. Doch in "retinere statum" funktioniert dieses Silbenschema nicht mehr. Die Metrik erfordert hier zwei kurze Silben bei "re-sta" oder "res-ta". Im ersteren Fall ist "re" zwar kurz, doch dann haben wir eine mit zwei Konsonanten beginnende Silbe "sta", die man nicht einfach, da sie mit einem Kurzvokal endet, als kurz bezeichnen kann. Sie hat zwei vollwertige Konsonanten (eine muta cum liquida, wie etwa "cr" kann man dagegen als einen Konsonanten sehen) und kann damit unmöglich schnell gesprochen werden. Und wenn man das "s" als selbstständigen Zischer von der Silbe "sta" nimmt, bleibt halt insgesamt "re-s-ta", also kurze Silbe, Zischer, kurze Seilbe, was die Metrik nicht vorsieht. Trennt man, dem tatsächlichen Sprechen nach "res-ta", so ist die erste Silbe lang. Bereits rein technisch können also nie zwei vollwertige Konsonanten am Übergang von einer kurzen auf eine kurze Silbe stehen.
All diese metrischen Sonderheiten sind Zeitzeugnisse der Dichtung der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.
Die folgenden deutschen Marienlieder haben das lateinische Ave maris stella als Grundlage:
Das erstgenannte Lied, "Meerstern, ich dich grüße", gibt dabei den lateinischen Ave-maris-stella-Hymnus großenteils wieder, enthält aber auch einiges Zusätzliche. Abgesehen von den dort vorkommenden O-Maria-hilf-Einschüben und dem Refrain, wäre es, ebenso wie die weiter oben niedergeschriebene Reimübertragung "Ave Stern der Meere" auf Melodie und Metrik des lateinischen Ave maris stella singbar.
Das zweite deutsche Meersternlied, "O Stern im Meere", weicht inhaltlich etwas weiter von der lateinischen Urfassung ab und ist auch metrisch anders aufgebaut.