Die Notation des Kreuzhymnus «Vexilla regis prodeunt» und Maria Carta, die ihn auf Sardisch singt (Quelle und Lizenzerteilung der beiden Bilder: jeweils Wikipedia/Wikimedia gemäß der Verlinkung)
Der Kreuzhymnus «Vexilla regis prodeunt» sollte am Gründonnerstag bei der Überführung des Allerheiligsten vom Hauptaltar an einen Seitenaltar, einer kleinen Prozession, gesungen werden.
Venantius Fortunatus gilt als der letzte lateinische Muttersprachler unter den Dichtern. Den Kreuzhymnus Vexilla regis hat er in einen jambischen Dimeter gefasst. Jeder solche Vers besteht aus zwei jambischen Metren, wobei jedes dieser Metren aus zwei Versfüßen besteht. Dabei muss der erste ein Spondeus (— —) oder ein Jambus (◡ —), der zweite jedoch verpflichtend ein Jambus (◡ —) sein. Die Versmetrik sieht dann so aus:
×—ˌ◡—.×—ˌ◡◠
Dabei steht × für eine beliebige, — für eine lange und ◡ für eine kurze Silbe. Das letzte Zeichen ◠ bedeutet, dass die letzte Silbe, sollte sie kurz sein, lang gebraucht wird, also stets lang ist. Das kleine Tiefkomma trennt die zwei Versfüße eines Metrums, der Punkt die beiden Metren.
Str. | Gesungener Latein-Text | Übersetzung ins Deutsche |
1. (1.)
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Vexilla regis prodeunt, fulget crucis mysterium, quo carne carnis conditor suspensus est patibulo. |
Die Standarten des Königs treten vor; Gründer am Fleisch ist aufgehängt worden! |
3. (2.)
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Quo vulneratus insuper |
Wo er überdies verwundet war |
5. (3.)
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Arbor decor[a] et fulgida, |
Du schöner, blitzender Baum, |
6. (4.)
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Beata, cuius brachiis |
Seliger Baum, an dessen Ästen |
8. (5.)
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Salv[e], ara, salve, victima, |
Sei gegrüßt, Altar, sei gegrüßt, Opferlamm |
L1 (6.)
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O crux, ave, spes unica hoc passionis tempore piis adauge gratiam, reisque dele crimina. |
O Kreuz, sei gegrüßt, du einzige Hoffnung in dieser Leidenszeit! Den Frommen vermehre die Gnade und den Angeklagten tilge die Vergehen! |
L2 (7.)
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Te, fons salutis Trinitas, collaudet omnis spiritus; quos per crucis mysterium salvas, fove per saecula. |
Dich, Quell des Heils, Dreifaltigkeit, lobe jeglicher Geist: Die du durch des Kreuzes Geheimnis errettest, hege durch die Jahrhunderte hindurch. |
Amen. | Amen. |
Die richtige Elision von "facta est" betrifft das "e" von "est", nicht das "a" von "facta".
Man spricht also "factast", notiert als "facta [e]st" oder meinerseits auch als "facta est".
Dem folgenden Originaltext von Venantius Fortunatus (spätes 6. Jahrhundert) sind zwei metrisch korrekte liturgischen (L) Strophen angehängt.
Neben der wörtlichen Übersetzung folgt noch eine Reimübertragung bei den Strophen, wo sie existiert. Sie entstammt einer "Anthologie christlicher Gesänge aus allen Jahrhunderten der Kirche" (Altona und Leipzig 1817), begleitet von August Jakob Rambach.
S. | Lateinischer Originaltext | Übersetzung ins Deutsche | Reimübertragung aus Rambach |
1.
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Vexilla regis prodeunt, fulget crucis mysterium, quo carne carnis conditor suspensus est patibulo. |
Die Standarten des Königs treten vor; Marterholzes, an dem des Fleisches Gründer am Fleisch wurde aufgehängt. |
Das Kreuz, des Königs Zeichen, steht geheimnisvoll und sprechend hier. Das Leben starb am Kreuz erhöht! In seinem Tode leben wir! |
2.
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Confixa clavis viscera |
Den Leib mit Nägeln angeheftet, |
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3.
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Quo vulneratus insuper |
Wo er überdies verwundet war waschen, von Wasser und Blut. |
An diesem Kreuzesholze floss das Blut, die Quelle höchster Huld, das Blut, mit dem sich Gnad' ergoss und Reinigung von Sünd' und Schuld. |
4.
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Impleta sunt, quae concinit |
Erfüllt ward, was verkündet hat |
Das Kreuz hat uns als Eigentum dem besten König zugeführt. Schon David sang zu seinem Ruhm: "Vom Holz hat Gott die Welt regiert!" |
5.
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Arbor decor[a] et fulgida, |
Du schöner, blitzender Baum, |
O Kreuz, das du so schön erscheinst! Des Königs Purpur glänzt an dir. Sei uns gegrüßt! An dir starb einst der Herr; sein Leib hing einst an dir. |
6.
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Beata, cuius brachiis |
Seliger Baum, an dessen Ästen |
Du warst die Waage, die das Heil der Menschen, die Erlösung, wog. Dem Himmel wurden wir zuteil, als Jesus uns der Sünd' entzog. |
7.
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Fundis aroma cortice, |
Du verströmst Wohlgeruch aus der Rinde, |
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8.
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Salv[e], ara, salve, victima, |
Sei gegrüßt, Altar, sei gegrüßt, Opfer- lamm aus des Leidens Ruhm, durch den Tod das Leben wiedergab. |
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L1
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O crux, ave, spes unica hoc passionis tempore piis adauge gratiam, reisque dele crimina. |
O Kreuz, sei gegrüßt, einzige Hoffnung in dieser Leidenszeit! Den Frommen vermehre die Gnade und den Angeklagten tilge die Vergehen! |
Schweb tröstend denn vor unserm Sinn! Sei stets, o Kreuz, vor unserm Blick! Dein Bild leit' uns zur Tugend hin und führ' uns von der Sünd' zurück! |
L2
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Te, fons salutis Trinitas, collaudet omnis spiritus: Quibus crucis victoriam largiris, adde praemium. |
Dich, Quell des Heils, Dreifaltigkeit, lobe jeglicher Geist: Denen, die du mit des Kreuzes Sieg beschenkst, füg hinzu deinen Lohn. |
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Amen. | Amen. | Amen. |
Bei Vers 2 von Vers 6 ist "pretium" zweisilbig zu singen: "pret-jum". Wohl um dies zu umgehen, wurde der Vers früher zu "saecli pependit pretium" geändert, wodurch die Metrik verletzt wird, bzw. man muss dann das an sich kurze "e" von "pretium" lang gebrauchen. Solche Änderungen fußen auf dem Wandel von der quantitierenden zur akzentuierenden Metrik, die heute unser Empfinden bestimmt; "pretium" ist ja nun richtig betont!
Die letzten zwei Verse der ersten liturgischen Zusatzstrophe L1, also der letzten Strophe der deutschen Reimübertragung, beziehen sich besser auf die folgende, metisch weniger schöne Version der letzten beiden Verse dieser lateinischen Zusatzstrophe: "Auge piis iustitiam / reisque dona veniam."
(den Frommen mehre die Gande / und den Angeklagten schenke Verzeihung!). Auch hier ist in "iustitiam" und "veniam" wieder die Betonung richtig, die jeweils drittletzte Silbe ("ti" bzw. "ve") ist jedoch kurz, muss also "lang gebraucht" werden.
Die lateinische Sprache ist wesentlicher Bestandteil des gregorianischen Chorals; allerdings ist Sardisch diejenige heutige romanische Sprache, die dem Lateinischen am nächsten kommt.