Ein deutsches Ave maris stella im Dreivierteltakt - eine Übertragung der elegischen Distichen von Matthäus Ronto ins Deutsche

Der deutsche Text in einer Dreivierteltakt-Metrik

Die verwendete Dreivierteltakt-Metrik des deutschen Textes ist an das im lateinischen Text von Matthäus Ronto verwendete elegische Distichon, das im nächsten Abschnitt erklärt wird, angelehnt. Nur werden lange und kurze Silben, wie im Deutschen üblich, durch betonte und unbetonte ersetzt. Dabei werden so viele Daktylen wie möglich benutzt, sodass das folgende Metrikschema entsteht:

 

T u u | T u u | T u u | T u u | T u u | T u \\

T u u | T u u | T || T u u | T u u | T \\

 

Dabei ist mit "T" eine betonte und mit "u" eine unbetonte Silbe bezeichnet. Im Wesentlichen handelt es sich um einen Dreiviertel- bzw. Walzertakt. Mit "\\" ist das Versende und mit dem Doppelstrich im zweiten Vers eine leichte Zäsur bezeichnet. Eine solche Zäsur ist im ersten Vers auch mindestens einmal vorhanden, nur ist sie da an keine feste Position gebunden.

"Hehre Gebärerin Gottes"
Martin Bachmaier 2023
Eine Übertragung des "Alma dei genetrix" von Matthäus Ronto († 1443),
welche eine Übertragung des "Ave Maris stella" in elegische Distichen ist
Hehre Gebärerin Gottes, beglückende Pforte des Himmels,
  strahlender Stern du des Meers, Jungfrau stets rein, sei gegrüßt.
Gabriels Ave es ist, was an Schicksal du trugst ihm vom Mund weg.
  Nimm uns zu dir in die Burg; Frieden uns Elenden gib.
Lob dir, o Mutter, durch's Ave verdreht hast den Namen der Eva,
  Schlag unser Böses in Flucht; alles, was gut ist, erbitt.
Löse den Sündern die Fesseln, trag Lichter voran allen Blinden,
  Tief grab es ein in dein Herz, dass eine Mutter du bist.
Während du mittelst, ergreif die Gebete für uns doch er selber;
  der dir gehören will, Gott, den du auf Erden gebarst.
Jungfrau, die mehr du als alle Geschöpfe bist mild und erhaben,
  demütig mach uns und keusch, wasche uns rein von der Schuld.
Gib uns auch Schutz, der die Reinheit des Lebens verwirklichen helfe!
  Mach, dass beherzt wir den Marsch gehen mit sicherem Schritt,
um, in der Ausschau nach Gott, deinem Sohne, getröstet auf ewig,
  holde Geschenke des Glücks dort zu erhalten als Lohn.
Gott sei lobpriesen, der Vater, der Sohn in dem Schreine wie oben,
  schließlich der Heilige Geist; diesen drei einzig der Ruhm.
Amen.

Die aus elegischen Distichen bestehende metrische Version des Ave maris stella von Matthäus Ronto mit deutscher Übersetzung

Der Vesperhymnus Ave maris stella ist in einer akzentuierend trochäischen Metrik geschrieben.

Ein Olivetaner aus Siena, Matthäus Ronto (†1443), hat es dennoch in eine quantitierende Metrik umgedichtet, und zwar in elegische Distichen aus Hexameter- gefolgt von Pentameter-Versen:

 

◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—◡◡ˌ—  (Hexameter: sechs Metren)

◡◡ˌ—◡◡ˌ— ‖ —◡◡ˌ—◡◡ˌ  (Pentameter: zweimal zweeinhalb = fünf Metren)

Es folgt der Text aus den Analecta Hymnica XLVIII, 460, wie er im oben erwähnten Werk von Dreves & Blume: "Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung, . . .", 1909, inTeil I, S. 464, steht:

Matthäus Ronto († 1443)
Translatio in metrum hymni
Möglichst wortstellungserhaltende
Übersetzung ins Deutsche
Alma Dei genetrix et caeli ianua felix,
  fulgida stella maris, virgo perennis, ave!
Erhabene Gottes-Gebärerin und des Himmels Tür beglückend,
strahlender Stern des Meeres, Jungfrau immerwährende, ave! (sei gegrüßt)!
Id Gabrielis Ave, quae fortis ab ore tulisti,
  nos miseros funda pacis in arce ratae.
Es ist Gabriels Ave, was des Schicksals von seinem Mund hast getragen;
uns Elende verankere in einer Burg gültigen Friedens!
Quae celebranda parens mutasti nomen et Evae,
  tu mala nostra fuga, tu bona cuncta pete.
Die du zu verherrlichende Mutter geändert hast den Namen auch Evas,
du schlag in die Flucht unser Böses, du erbitte das gesamte Gute!
Vincula solve reis et profer lumina caecis
  matris et insinua te retinere statum.
Die Fesseln löse den Beklagten und trag voran die Lichter den Blinden,
und lass tief in dich eingehen, dass du beibehältst einer Mutter Stellung.
Te mediante preces pro nobis ipse capessat,
  qui vult esse tuus natus in orbe deus.
Während du vermittelst, nehme er selbst sich der Gebete für uns an,
welcher will sein der Deine, geboren auf dem Erdkreis als Gott.
Virgo super cuntos homines et mitis et alta,
  fac humiles, castos, nos bene labe luens.
O Jungfrau, mehr als alle Menschen milde und auch hochgestell,
mach uns demütig, keusch, uns gut von unserer Schande reinwaschend.
Da quoque purificae vitae munimina nobis
  ac iter impavidum cruraque tuta para,
Gib uns auch des reinigenden Lebens Schutzmittel
und zudem bereite uns eine beherzte Reise und sichere Beine.
Ut genitum speculando tuum solemur in aevum
  grataque laetitiae dona lucremur ibi.
damit wir im Ausschauen nach deinem Sohn uns trösten in Ewigkeit
und holde Geschenke der Freude gewinnen dort.
Laus benedicta deo patri natoque superno,
  spiritui sancto, sit tribus unus honor.
Lob gut gezeigt Gott dem Vater, dem Sohn auch sich oben befindend;
dem Heiligen Geist; es sei den Dreien die eine Ehre.
Amen. Amen.

Die Versform folgt nicht durchgehend der klassischen Silben-Messung. So ist etwa das Schluss-"o"  von "virgo" und "speculando" kurz zu sprechen, eine Vokalkürzung, die bereits bei Venantius Fortunatus (6. Jahrhundert) belegt ist. Dass etwa Vergil bei "homo" ("Mensch") das Schluss-"o" kurz misst, entspricht dagegen klassischen Vokalkürzungsregeln; "homo" ist nämlich jambisch, was die Kürzung des Schluss-Vokals ermöglicht (wie etwa auch bei "tibi", "ibi", "ubi" usw.).

Das "ac" im drittletzten Verspaar sollte, da es vor einem Vokal steht, klassisch "atque" heißen, wobei dann das Schluss-"e" im Anfangs-"i" von "iter" aufgeht; nur dies garantiert die lange Silbe bei Pentameter-Beginn.

Dann folgt noch das Problem, dass man im späteren Latein offenbar geglaubt hat und möglicherweise immer noch glaubt, dass die Schlusssilbe eines Wortes, das mit einem kurzen Schlussvokal endet, auch kurz bleibt, sich also keinen Anfangs-Konsonanten eines nachfolgenden, mit vollweritgem Doppelkonsonanten beginnenden Wortes wie z. B. "stella" dazuschnappt. So mag man bei "fulgida stella" die Silbe "da" unbehelligt vom Anfangs-"s" in "stella" kurz lassen, stattdessen das "s" der langen Silbe, die eigentlich nur "tel" heißen sollte, vorausschieben und diese als "stel" noch länger machen. Doch in "retinere statum" funktioniert dieses Silbenschema nicht mehr. Die Metrik erfordert hier zwei kurze Silben bei "re-sta" oder "res-ta". Im ersteren Fall ist "re" zwar kurz, doch dann haben wir eine mit zwei Konsonanten beginnende Silbe "sta", die man nicht einfach, da sie mit einem Kurzvokal endet, als kurz bezeichnen kann. Sie hat zwei vollwertige Konsonanten (eine muta cum liquida, wie etwa "cr" kann man dagegen als einen Konsonanten sehen) und kann damit unmöglich schnell gesprochen werden. Und wenn man das "s" als selbstständigen Zischer von der Silbe "sta" nimmt, bleibt halt insgesamt "re-s-ta", also kurze Silbe, Zischer, kurze Seilbe, was die Metrik nicht vorsieht. Trennt man, dem tatsächlichen Sprechen nach "res-ta", so ist die erste Silbe lang. Bereits rein technisch können also nie zwei vollwertige Konsonanten am Übergang von einer kurzen auf eine kurze Silbe stehen.

All diese metrischen Sonderheiten sind Zeitzeugnisse der Dichtung der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Lateinische und deutsche Version nebeneinander im Vergleich

Dasselbe lateinische Gedicht nochmal, jetzt aber statt meiner wörtlichen Übersetzung die obige Dreivierteltakt-Version:

Matthäus Ronto († 1443)
Translatio in metrum hymni
Martin Bachmaier 2021
Metrische Übertragung ins Deutsche
Alma Dei genetrix et caeli ianua felix,
  fulgida stella maris, virgo perennis, ave!
Hehre Gebärerin Gottes, beglückende Pforte des Himmels,
  strahlender Stern du des Meers, Jungfrau stets rein, sei gegrüßt.
Id Gabrielis Ave, quae fortis ab ore tulisti,
  nos miseros funda pacis in arce ratae.
Gabriels Ave es ist, was an Schicksal du trugst ihm vom Mund weg.
  Nimm uns zu dir in die Burg; Frieden uns Elenden gib.
Quae celebranda parens mutasti nomen et Evae,
  tu mala nostra fuga, tu bona cuncta pete.
Lob dir, o Mutter, durch's Ave verdreht hast den Namen der Eva,
  Schlag unser Böses in Flucht; alles, was gut ist, erbitt.
Vincula solve reis et profer lumina caecis
  matris et insinua te retinere statum.
Löse den Sündern die Fesseln, trag Lichter voran allen Blinden,
  Tief grab es ein in dein Herz, dass eine Mutter du bist.
Te mediante preces pro nobis ipse capessat,
  qui vult esse tuus natus in orbe deus.
Während du mittelst, ergreif die Gebete für uns doch er selber;
  der dir gehören will, Gott, den du auf Erden gebarst.
Virgo super cuntos homines et mitis et alta,
  fac humiles, castos, nos bene labe luens.
Jungfrau, die mehr du als alle Geschöpfe bist mild und erhaben,
  demütig mach uns und keusch, wasche uns rein von der Schuld.
Da quoque purificae vitae munimina nobis
  ac iter impavidum cruraque tuta para,
Gib uns auch Schutz, der die Reinheit des Lebens verwirklichen helfe.
  Mach, dass beherzt wir den Marsch gehen mit sicherem Schritt,
Ut genitum speculando tuum solemur in aevum
  grataque laetitiae dona lucremur ibi.
um, in der Ausschau nach Gott, deinem Sohne, getröstet auf ewig,
  holde Geschenke des Glücks dort zu erhalten als Lohn.
Laus benedicta deo patri natoque superno,
  spiritui sancto, sit tribus unus honor.
Gott sei lobpriesen, der Vater, der Sohn in dem Schreine wie oben,
  schließlich der Heilige Geist; diesen drei einzig der Ruhm.
Amen. Amen.
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